I H R F L U G B L A T T
6. August 2000
Liebe Menschen in Brokdorf,
wundern Sie sich nicht, wenn Sie bei der Bushaltestelle an Ihrem
Atomkraftwerk vierzehn Steine von den Bäumen hängen sehen.
Sie hängen da als Steine des Anstoßes oder auch als Steine,
die uns vom Herzen gefallen sind, wenn ein Jahr des Kraftwerkes
ohne Schaden für die Menschen vorbeigegangen ist. Und wenn
wir Bewegung in die Köpfe der Verantwortlichen bringen können
in die Richtung einer neuen Energiezukunft, dann werden die Steine
zu tanzen beginnen.
Heute vor 55 Jahren begann die Atomzeit nach der wenige Jahre zuvor
entdeckten Atomspaltung gleich in ihrer entsetzlichsten Form. Eine
Atombombe auf Hiroshima und eine zweite nur drei Tage später
auf Nagasaki löschten augenblicklich über 300 000 Menschenleben
aus und verkrüppelten und verstrahlten unzählige weitere
Menschen. Das Leid der überlebenden ist bis heute fast unbeschreiblich.
Einen Bericht von einem Gespräch mit einer Frau, die das Grauen
von Hiroshima überlebt hat, finden Sie auf
dem zweiten Flugblatt. An diese verhängnisvollen Geschehnisse
wollen wir am heutigen Tag mahnend erinnern. Mitte der fünfziger
Jahre begann die zivile Nutzung der Atomspaltung zur Erzeugung von
Strom, vor allem aber zur gleichzeitigen Gewinnung großer
Mengen von Waffenplutonium. Sie wurde als friedliche Nutzung bezeichnet
bis vor vierzehn Jahren die Katastrophe von Tschernobyl offenbarte,
daß die mit gewaltigem technischen Aufwand gebändigte
Atomspaltung durch ein geringes menschliches Versagen völlig
außer Kontrolle geraten kann. Viele tausend Menschen haben
seitdem dadurch ihr Leben verloren und viele tausend werden noch
als Folge davon Gesundheit und Leben verlieren.
Noch heute gehen vielfältige Gefahren von den glühenden
und strahlenden Resten des Reaktors aus. Dreißig Jahre sollte
der verhüllende Betonmantel halten, aber die Strahlung war
stärker. Schon jetzt nach vierzehn Jahren muß die Betonhülle
mit einem Aufwand von 1644 Millionen Mark erneuert werden, während
verstrahlte Menschen in den Hungerstreik treten, um ihren gerichtlich
bestätigten Forderungen zu finanzieller Unterstützung
verzweifelten Nachdruck zu verleihen.
Wie können wir eine solche Technik der Energiefreisetzung
noch länger verantworten? Es kann doch nicht angehen, daß
die Atomwirtschaft solange weitermachen will, bis die Vorräte
an Uran zu Ende gehen. Wo wären wir heute, wenn die Menschen
der Steinzeit ebenso gedacht und weiter gemacht hätten bis
der Vorrat an Steinen aufgebraucht wäre?
Seit vierzehn Jahren versammeln wir uns deshalb am sechsten Tag
jeden Monats und mahnen und beten für eine Zukunft, die frei
ist von den zivilen und militärischen Gefahren der Atomtechnik.
Endlich erkennen wir erste Bewegungen in verschiedenen Ländern
unserer Welt. In Deutschland gibt es einen, wenn auch vorerst noch
fernen, Zeitpunkt für ein Ende der Atomtechnik. Frankreich
diskutierte jüngst auf höchster Ebene eine Zukunft ohne
Atomkraft und die Türkei hat dieser Tage den ersten Schritt
in diese Technik gerade noch zurückgezogen. Selbst im high-tech-verliebten
Japan melden sich jetzt kritische Stimmen.
In unseren Hoffnungen bestärkt werden wir weiter wachen und
mahnen.
Mit allen guten Wünschen
von Ihrer Mahnwachengruppe vom Tor des Atomkraftwerkes
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