Störfälle
   




Wilstersche Zeitung

30.04.1996

Nach einem GAU in Brokdorf
müssten drei Millionen Menschen umgesiedelt werden

Dr. Karsten Hinrichsen verglich zehn Jahre nach der Tschernobyl-Katastrophe die Atommeiler von Brokdorf und Tschernobyl

W i 1 s t e r. Tschernobyl - eine Stadt in der Ukraine, die vor zehn Jahren niemand in Westeuropa kannte. Inzwischen hat der Ort traurige Berühmtheit erlangt. Genau zehn Jahre ist es her, daß im dortigen Atomkraftwerk der Reaktorkern explodierte. Eine strahlende Wolke verteilte die Radioaktivität über Nord- und Mitteleuropa. Dr. Karsten Hinrichsen, Grünen-Politiker und vehementer Gegner des Atomkraftwerkes Brokdorf, nahm den zehnten Jahrestag des Super-GAU zum Anlaß, im Wilsteraner Colosseum einen Vergleich der Meiler in Tschernobyl und Brokdorf anzustellen.

"Wenn ein Kraftwerk sauber fährt, wird Radioaktivität freigegeben, aber ich lebe noch. Aber schon, wenn nur eine Kleinigkeit schiefgeht, kommt es zu einem dramatischen Anstieg", erklärte Hinrichsen den Zuhörern. Beispiele dafür seien zwei Vorkommnisse im vergangenen Sommer gewesen. Urplötzlich schnellte die Abgabe an Radioaktivität drastisch empor. Was an einem Tag an die Außenwelt abgegeben wurde, so Hinrichsen, sei zwar nur die Hälfte dessen gewesen, was an Tagesdosis genehmigt sei, doch immerhin das Zehnfache dessen, was die Anlage ansonsten innerhalb eines Jahres abgebe. Nach Auskunft des engagierten Brokdorfers habe man lediglich besonders schnell sein wollen und einen Behälter versehentlich zu früh geöffnet.

Der Brokdorfer Reaktor hat eine thermische Leistung von 3765 Megawatt. In Tschernobyl waren es 3200 MW. Als Kühlmittel verwenden beide Anlagen Wasser. Als Moderator, um die Reaktion im Kern zu bremsen, verwenden die Russen Graphit. In Brokdorf sei es Wasser. "Eine Kettenreaktion à la Bombe ist in deutschen Leichtwasserreaktoren nicht möglich", stellte Karsten Hinrichsen klar.

Zum Größten Anzunehmenden Unfall (GAU) kommt es, wenn das Kühlsystem ausfällt. Dann steigt die Temperatur im Druckbehälter an, der Brennstoff schmilzt, tropft auf den Reaktorboden und brennt sich durch den Beton. Es besteh die Gefahr, daß die radioaktive Glut ins Grundwasser gelangt. So genannte Liquidatoren haben das in Tschernobyl verhindert, indem sie einen Tunnel unter den Reaktorkern gruben und ihn mit Beton füllten. Nach neuesten Berechnungen, so Dr. Hinrichsen, könne die Reaktorhülle dem auftretenden Druck nur etwa drei Stunden lang standhalten. Dann platzt sie.

Nach dem GAU sind in Tschernobyl 100000 Menschen evakuiert worden. Weitere 300000 mußten umgesiedelt werden. Karsten Hinrichsen rechnete vor, daß nach einem GAU in Brokdorf 10000 Menschen evakuiert werden müßten. Im erweiterten Radius müßten allerdings schon drei Millionen Menschen umgesiedelt werden.

Ab einer Belastung von 40000 Becquerel pro Quadratmeter spreche man davon, daß Menschen betroffen seien. Dies traf in Tschemobyl auf vier Millionen Menschen zu. In Brokdorf wären es 20 Millionen Menschen. Hinrichsen: "Die Menge, die. herauskommt, ist in beiden Reaktoren etwa gleich. Der Wettergott wird es dann verteilen." Da in Tschernobyl das Graphit gebrannt habe, seien extrem hohe Temperaturen aufgetreten. Dadurch gelangten die radioaktiven Partikel sehr hoch in die Atmosphäre und verteilten sich anschließend weiträumig. In Brokdorf könne es "nur" zu einer Dampfexplosion kommen. Partikel würden nicht so hoch geschleudert.

Harsche Kritik äußerte der Grünen-Politiker Hinrichsen an den Sozialdemokraten: "Die SPD hat es während ihrer Regierungszeit nicht einmal geschafft, die Bevölkerung an einem Genehmigungsverfahren zu beteiligen. Das zeigt, ob eine Landesregierung wirklich aussteigen will." Umweltgruppen oder Kläger wie er hätten von der Landesregierung keinerlei Unterstützung erhalten. Bei ernsthaften Ausstiegsabsichten müsse die Landesregierung über jeden Kläger froh sein, so Hinrichsen, denn durch eine Klage werde das Weisungsrecht der Bundesregierung außer Kraft gesetzt. Auch an eine rot-grüne Koalition knüpft der Brokdorfer Meteorologe wenig Hoffnungen. Er verspricht sich allerdings von einem grünen Umweltminister etwas mehr Akteneinsicht.

ANDREAS OLBERTZ