Karsten Hinrichsen,
Brokdorf, 25.1.2001
Atomkonsens verteidigen oder bekämpfen?
Die Atomkonsens-Vereinbarung (AtKo) wird von denjenigen gekämpft,
welche die darin enthaltenen, geringen Restriktionen für die
Atomstromproduktion zusätzlich aufweichen wollen, um noch mehr
Rechtssicherheit für die verbleibenden Restlaufzeiten zu erreichen
("Atomlobby"):
- die Atomfraktion innerhalb der EVUs
- die süddeutschen Bundesländer. Sie lehnen atomare
Zwischenlager nur deshalb ab, weil sie den Atommüll nicht
in ihrem Land behalten wollen (Sankt Florian)
- große Teile der CDU/CSU/FDP, die eine Beendigung der
Atomstromproduktion generell ablehnen
- die großen Industrieverbände, die steigende Strompreise
befürchten
- und zunehmend auch Mitglieder von Umweltverbänden, denen
die Klimaveränderung bedrohlicher erscheint als ein SuperGAU.
Diejenigen, denen die Atomkonsens-Vereinbarung nicht weit genug
geht ("AKW-Gegner"), sehen sich genötigt, diese gegen
die Angriffe der Atomlobby zu verteidigen.
Sind diese Bemühungen dem Atomausstieg förderlich?
Zur Beantwortung dieser Frage sind besonders die langfristigen Folgen
des AtKo zu betrachten; denn in 2 Jahren, nach der nächsten
Bundestagswahl, können der AtKo und die daraus abgeleitete
Atomgesetznovelle wieder geändert werden. z. B. in den Teilen,
die der Atomlobby weh tun.
Bewertung der langfristigen Folgen der Atomkonsens-Vereinbarung
- Die vor der BT-Wahl gesellschaftlich verankerte Mehrheit für
einen Atomausstieg nimmt durch den AtKo immer weiter ab ("Wenn
auch die Grünen nicht mehr für den Sofortausstieg sind,
warum dann ich?") Atomkraftgegner werden in den Medien zunehmend
als Außenseiter dargestellt und deren Handeln als illegal
bewertet. (Die Hetze gegen die früheren Einstellungen von
Fischer und Trittin zur Autorität des Staates könnte
als Vorbereitung dazu dienen, die Anti-AKW-Bewegung zu kriminalisieren.
Und daß sich die beiden nicht dazu bekennen, schwächt
den außerparlamentarischen Widerstand zusätzlich.)
Die mit der Wahl von Rot/Grün verbundene Hoffnung auf die
Förderung eines gesellschaftlichen "Ausstiegsklima"
ist in ihr Gegenteil verkehrt.
- Der Abbau/die Einschränkung des vom Bundesverfassungsgerichts
geforderten "dynamischen Grundrechtsschutzes", welcher
besagt, daß die AKWs gegen alle erkannten Sicherheitsmängel
nachgerüstet werden müssen (unpräzise "Sicherheitsabbau").
- Die Zusage der Bundesregierung, daß trotz des im §
9a Atomgesetz geforderten Entsorgungsnachweises, der nicht erbracht
werden kann, die AKWs weiterbetrieben werden dürfen. Als
"Entsorgungsvorsorgenachweis" sollen Standortzwischenlager
(Kartoffelscheunen) anerkannt werden. Für diese bereits 1992
von RWE und VEBA vorgeschlagene direkte Entsorgung machen sich
insbesondere die Grünen stark, weil sie die Proteste gegen
Castortransporte fürchten. Die dezentralen Zwischenlager
stellen das trojanisches Pferd des AtKo dar.
- Die Bestandssicherung der wirtschaftlichen Privilegien für
Atomstrom (keine Uransteuer, steuerfreie Rückstellungen,
kein ausreichende Versicherung gegen die finanziellen Auswirkungen
eines SuperGAUs), welche Investitionen in regenerative Energien,
KraftwärmeKopplung und Energieeinsparung auf lange Zeit unwirtschaftlich
machen.
Schon diese vier Schwachpunkte des AtKo behindern den Atomausstieg
derart, daß der AtKo bekämpft werden sollte und seine
Absicherung in der geplanten Atomgesetznovelle verhindert werden
muß.
Dagegen wird Trittin in der Öffentlichkeit nicht müde
zu betonen, daß "es nur diesen Konsens gäbe, bei
dessen Scheitern der Atomausstieg um Jahre zurückgeworfen würde".
Es gibt - aus meiner Sicht - zwei Alternativen, mit denen der
Atomausstieg schneller erreicht werden könnte:
- Sofort abschalten (technisch in ca. zwei Jahren möglich).
Die evtl. durch das Bundesverfassungsgericht anerkannte Entschädigungspflicht
(ca. 10 bis 40 Mrd. DM verteilt auf z. B. zehn Jahre) sind aus
der Portokasse bezahlbar. Nein? Eichels Steuergesetzgebung kostet
den Staat jährlich ca. 50 Mrd. DM.
- Die bestehenden Gesetze und Regelwerke nutzen und verschärfen,
um die AKWs weniger profitabel zu machen.
Wer die folgende Auflistung von 10 Daumenschrauben überspringen
möchte, lese weiter bei Fazit.
Ohne Konsens kein Atomausstieg?
Welche Handlungsfelder stehen einer ausstiegsgewillten Bundesregierung
zur Verfügung, um ohne Konsens die Atomstromproduktion zu beenden?
- Ein Ausstiegsklima in der Gesellschaft erzeugen.
Dazu steht einer Bundesregierung (BR) ihr Pressereferat und Referat
für Öffentlichkeitsarbeit sowie ein finanziell gut ausgestatteter
Etat für Werbung und Anzeigen in Medien zur Verfügung.
Ziel wäre eine Aufklärungskampagne, welche die Risiken
der Atomenergienutzung anprangert (10 Argumente für die "Notwendigkeit
des Sofortausstiegs" wurden 1998 von Heiko Ziggel und Karsten
Hinrichsen formuliert. Sie sind als rtf.datei angehängt.)
Hier ist der Bundesregierung seit ihrer Amtsübernahme ein
schweres Versäumnis vorzuwerfen. Nicht einmal, als es um
die Frage einer kurzfristigen, entschädigungsfreien Befristung
der Betriebsgenehmigungen ging, wurde die Sicherheitsfrage problematisiert.
Nicht einmal dem dummen Argument, die deutschen
AKWs seien die sichersten der Welt, wurde widersprochen.
- Die Alternativen in den Vordergrund stellen
Immer noch glauben viele Bundesbürger, daß ohne AKWs
die Lichter ausgingen, der Strom unerschwinglich teuer würde
und das Klima endgültig Schaden nähme. Verlautbarungen,
wie die Energiewirtschaft der Zukunft aussieht, welche positiven
Auswirkungen sie auf die Arbeitsplatzsituation hat und in welchen
Zukunftstechnologien die in der Atomindustrie Beschäftigten
Arbeit finden könnten, hätten den Druck auf die Betreiber
erhöhen können.
- Die Sicherheitsanforderungen erhöhen
Wenn die Reaktorsicherheits- (RSK) und Strahlenschutzkommission
(SSK) ausstiegsorientiert arbeiten würden (die von Trittin
gewählte, paritätische Besetzung läßt das
nicht zu), könnten die atomtechnischen Regelwerke und der
Strahlenschutz verbessert werden, was teure Nachrüstungen
und lange Stillstände für die AKWs zur Folge haben würde.
- Nachträgliche Auflagen
Gemäß § 17 AtomGesetz ist es jederzeit zulässig
und regelmäßig auch geboten, die zur Abwehr von Gefahren
erforderlichen Auflagen zu erlassen. Das Bundesverfassungsgericht
hat mehrmals betont, daß unter dem Gesichtspunkt des dynamischen
Grundrechtsschutzes neue Erkenntnisse in Wissenschaft und Technik
auch für nachträgliche Auflagen maßgebend sind.
Hier sind sowohl Bundesregierung (beraten durch die RSK und SSK)
als auch die Atomaufsichtsbehörden der Länder aufgefordert,
die weltweite Entwicklung der Sicherheitstechnologie in ihr Verwaltungshandeln
einzubeziehen. Das versuchten, als Frau Merkel BMU war, einige
Länder über einen sog. ausstiegsorientierten Vollzug
des Atomgesetzes. Sie hatten jedoch gegenüber der Richtlinienkompetenz
des Bundes (Weisungshammer von BMU Merkel) schlechte Karten. Zu
beachten ist, daß sogar die neueren AKWs der BRD mit einer
(veralteten) Technologie betrieben werden, wie sie vor 20 Jahren
üblich war.
- Staatliches Einschreiten schon bei Gefahrenverdacht
Schon bei einem Gefahrenverdacht oder Besorgnispotential kann
die Aufsichtsbehörde gemäß § 19 AtG auf Abhilfe
bestehen bzw., wenn dies nicht möglich ist, die Betriebseinstellung
anordnen. Dabei muß die Behörde nicht einmal die Unsicherheit
der Anlage oder des Anlagenteils beweisen. Es genügt nachzuweisen,
daß hinreichende Gründe für die Annahme eines
Gefahrenverdachts bestehen. (Es wird an die Leukämieerkrankungen
in der Nähe des Krümmel erinnert.) Der Atomaufsicht
wird dabei zugestanden, sich aus der Bandbreite der wissenschaftlichen
Meinungen die ihr genehme herauszusuchen. Gerichte billigen der
Behörde insoweit eine Entscheidungsprärogative zu, was
bedeutet, daß bei der Behörde der größere
Sachverstand vermutet wird. Gerichte verzichten nämlich schon
seit vielen Jahren darauf, selbst atomtechnische Sachverhalte
aufzuklären.
- Die Bundesregierung kann das hinnehmbare Restrisiko neu
definieren
Atomkraftwerke müssen entsprechend dem deutschen Regelwerk
nur gegen solche Störfälle ausgelegt sein, die keine
größeren Auswirkungen auf die Umgebung haben als der
Größte anzunehmende Unfall (GAU). Der beherrschbare
Abriß einer Primärkühlmittel führenden Leitung
stellt den GAU dar. Alle einen Unfall auslösenden Ereignisse
und Unfallabläufe, die größere Auswirkungen haben
können, (Flugzeugabsturz, Sabotage, Explosionsdruckwellen,
Kernschmelzen unter hohem Druck, Wasserstoffexplosion (das war
die Gefahr im AKW Harrisburg), Wasserdampfexplosion, direct heating
usw.) gehören per Definition durch die RSK zum Restrisiko:
Behörden haben kaum Aussicht, dagegen Vorkehrungen durchzusetzen,
und Anwohner können sie nicht zur Klagebegründung heranziehen.
Hierzu hatte das BVerfG 1985 im Wyhl-Urteil wegen der möglichen
immensen Unfallfolgen geurteilt, daß nur gegen unbekannte
Gefahren keine Vorsorge getroffen zu werden braucht. Derartige
Gefahren seien unentrinnbar und daher von der Allgemeinheit sozial
adäquat hinzunehmen. Dieses Urteil eröffnet große
Möglichkeiten für die Aufsichtsbehörden; denn durch
Risikostudien und Unfälle ist seit 1985 eine Fülle von
Gefahren bekannt geworden, die von der gegenwärtigen Sicherheitstechnologie
der AKWs nicht beherrscht werden.
Stillegungen oder wenigstens Nachrüstungen aufgrund dieser
sog. Änderung der Sicherheitsphilosophie wurden bislang nicht
ernsthaft versucht, weil Merkel (und Trittin?) mit Weisung drohte
und die Betreiber mit Schadensersatz.
- Das untergesetzliche Regelwerk kann verschärft werden
Auf der Verordnungsebene sind die Ermächtigungsgrundlagen
in § 12 AtG längst nicht ausgeschöpft, um die Position
der Atomaufsichtsbehörden zu stärken. Erlaß von
Verwaltungsvorschriften, die rechtliche Absicherung von Sachverständigen
und Sachverständigengremien, die Festlegung von deren Aufgaben,
die Erarbeitung von Richtlinien für die Sicherheitsüberprüfung
usw. sind im Sinne einer Erhöhung der Sicherheit (und damit
kostentreibend) auszubauen.
- Die fehlende Entsorgung
Sie bietet einen ganzen Strauß von Handlungsoptionen:
- Der Entsorgungsparagraph 9a des AtG könnte buchstabengetreu
durchgesetzt werden.
- Der Entsorgungsvorsorgenachweis von 1979 könnte verschärft
oder als nicht dem § 9a AtG genügend bewertet werden.
- Die Transportbehälter könnten durch realistischere
Tests (größere Fallhöhe und Wassertiefe, heißeres
Feuer als bisher angenommen) auf Herz und Nieren getestet
werden.
- Die Wiederaufarbeitung könnte sofort untersagt werden,
weil sie im Sinne des Atomgesetzes nicht schadlos erfolgt.
- Die Privilegien für Atomstrom können abgeschafft
werden.
Für AKWs gibt es eine Reihe wettbewerbsverzerrender Privilegien,
die der Konkurrenz, insbesondere den regenerativen Energien und
der KraftWärmeKopplung in dieser Höhe nicht zukommen:
- steuerfreier Uraneinkauf
- steuerfreie Entsorgungsrückstellungen (LaFontaine
hat von den 80 Mrd. DM immerhin 20 Mrd. nachversteuern lassen,
nicht Trittin.)
- zu vollem Versicherungsschutz verpflichten (Banken geben
für Windkraftanlagen nur Kredite, wenn eine Vollhaftpflicht
abgeschlossen wurde.)
- Auflistung weiterer Handlungsfelder
- Keine Zwischenlager genehmigen und Polizisten über
ihre Gefährdung bei der Sicherung von Castortransporten
besser aufklären
- Mehr atomkritisches Personal im BMU und nachgeordneten
Behörden (z. B. im Bundesamt für Strahlenschutz)
einstellen
- Keine der Atomenergiebefürworter als Verfassungsrichter
berufen
- KlägerInnen bei deren Prozessen gegen Atomanlagen
unterstützen
Fazit: Diese Aufstellung ist bestimmt nicht vollständig.
Sie zeigt aber, daß es viele empfindliche Maßnahmen
gibt, durch welche sich die Sicherheit der Bevölkerung erhöhen
ließe und den Betreibern der Profit geschmälert werden
könnte. Viele dieser Daumenschrauben sind wegen der im Konsens
vereinbarten Friedenspflicht unmöglich geworden. Unter diesem
Aspekt liegt die Bewertung nahe: kein Konsens wäre der wirkungsvollere
Weg zum Ausstieg. Konsens ist Nonsens.
Resümee:
Ich bitte diejenigen (realpolitisch ausgerichtetn) AKW-GegnerInnen,
die derzeit den Atomkonsens gegen die Angriffe der Atomlobby verteidigen,
zu überprüfen, ob diese Position dem Ausstieg dient. Ein
Handeln gemäß dem Sprichwort: "Lieber den Spatz
in der Hand als die Taube auf dem Dach" sollte überdacht
werden, wenn (s. unter "langfristige Folgen des AtKo")
sich der Spatz als trojanisches Pferd herausstellt.
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