Karsten Hinrichsen
Dorfstr. 15
2211 Brokdorf

3.7.1989

Ziel, Verlauf und Ergebnis meines Brokdorfprozesses

(Vom Vereinsblatt der Eltern für unbelastete Nahrung angeforderter Beitrag, der auf Vorstandsbeschluß nicht abgedruckt wurde).

Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg hat meine Klage gegen die 2. Teilbetriebsgenehmigung für das AKW Brokdorf abgewiesen. Ich habe die Kosten des Verfahrens (ca. 25.000 DM) zu tragen. Revision wurde nicht zugelassen. Außer von privaten Spendern werden die Kosten von den Grünen getragen, obwohl ich erst 14 Monate nach Klageerhebung Mitglied wurde.

Neben Fragen der ungelösten Entsorgung und des vom Atomgesetz nicht abgedeckten Plutoniumeinsatzes habe ich die Unfallgefahren durch menschliches Fehlverhalten thematisiert.

Mein Hauptangriff richtete sich gegen die Höhe der für den Normalbetrieb gestatteten Radioaktivitätsabgaben. Meine Berechnungen hatten ergeben, daß der Verzehr von Milchprodukten, die in der Nähe des AKW Brokdorf erzeugt werden, zu einer Grenzwertüberschreitung führt. Das AKW müßte, wenn das stimmt, sofort abgeschaltet werden.

Das Energieministerium als Beklagte hatte beantragt, meine Klage als unbegründet abzuweisen.

Die Umgebungsüberwachung um ein AKW ist äußerst lückenhaft.

Milch zum Beispiel wird nur zweimal im Jahr überprüft. Das Entdecken einer Grenzwertüberschreitung wäre also reiner Zufall. Deshalb wird die Frage, ob es zu Grenzwertüberschreitungen eines AKW´s kommen wird, rechnerisch entschieden. Dazu dient die vom Bundesinnenminister erlassene sogenannte Allgemeine Berechnungsgrundlage. Diese jedoch - so mein Sachvortrag - kann die Einhaltung der Grenzwerte nicht gewährleisten, weil sie von zu günstigen Verhältnissen ausgeht und lediglich darauf abzielt, die sogenannte "Referenzperson" zu schützen. Dabei handelt es sich um einen ca. 25-jährigen Mann, 70 kg schwer und kerngesund; der ein sogenanntes "Normmenue" zu sich nimmt.

Diese Berechnungsgrundlage ist nach meiner Auffassung verfassungswidrig, denn auch Frauen, Alten, Kranken und Ungeborenen steht das in Artikel 2 Grundgesetz verbürgte Recht auf körperliche Unversehrtheit zu. In der Vorbemerkung zur Allgemeinen Berechnungsgrundlage heißt es immerhin, daß örtliche Besonderheiten zu berücksichtigen sind. Nicht einmal das hat die Genehmigungsbehörde getan: z.B. ist bekannt, daß Menschen in Milcherzeugungsgebieten wie der Wilstermarsch mehr Milchprodukte verzehren als der Standardmensch. Ein anderes Beispiel: Die Wilstermarsch liegt zum Teil unter dem Meeresspiegel. Deshalb ist das Gras sehr feucht, so daß sich extrem viel radioaktives Jod auf dem Gras ansammelt, das von den Kühen gefressen wird und so in die Milch gelangt. Leider führt auch die ökologische Wirtschaftsweise des Landwirts, von dem ich meine Milchprodukte beziehe, zu einer höheren Jodverseuchung der Milch, als in der Berechnungsgrundlage angenommen wird.

Das Gericht hat entschieden, daß ich mit all diesen Gründen nicht mehr gehört werden kann, weil sich die Genehmigungsbehörde bereits mit der 1. Teilbetriebsgenehmigung darauf festgelegt habe, sie werde die Ermittlung der Grenzwerte mit genau dieser (falschen) vornehmen.

Abgesehen davon, daß mein Anwalt bezweifelt, daß es eine solche Festlegung in der 1. Teilbetriebsgenehmigung überhaupt gegeben hat, ergibt sich folgendes:
Obwohl mit der 1. Teilbetriebsgenehmigung noch gar keine Radioaktivitätsabgabewerte festgelegt worden sind, hätte ich bereits Klage erheben sollen. Das Paradoxe ist, daß eine Klage nur damit begründet werden kann, daß eine persönliche Rechtsverletzung (hier: Grenzwertüberschreitung) bewiesen wird. Jedes Gericht hätte meine Klage gegen die 1. Teilbetriebsgenehmigung mit folgender Begründung abgewiesen: "Nun warten Sie doch erst einmal ab, welche Radioaktivitätabgaben mit der 2. Teilbetriebsgenehmigung gestattet werden. Sie können dann immer noch klagen." Dieser juristische Taschenspielertrick wurde dann zur Posse. Ich konnte nämlich nachweisen, daß sich die Genehmigungsbehörde in der 2. Teilbetriebsgenehmigung in einem Punkt gerade nicht an die Berechnungsgrundlage gehalten hatte. Dazu hat das Oberverwaltungsgericht entscheiden, daß es im Ermessen der Genehmigungsbehörde liege, von der Berechnungsgrundlage abzuweichen. Mit anderen Worten: Eine Klage gegen die 1. Teilbetriebsgenehmigung wäre abgewiesen worden, weil die Behörde sich bei der Erteilung der 2. Teilbetriebsgenehmigung an die Berechnungsgrundlage halten würde. Meine Klage gegen die 2. Teilbetriebsgenehmigung wurde abgewiesen, weil die Behörde von der Berechnungsgrundlage abweichen darf.

Nicht nur meine Klage ist mit diesem formalen Argument zu Fall gebracht worden. Die schlimme, rechtpolitische Neuerung besteht darin, daß zukünftige Kläger nicht nur bei jeder Teilgenehmigung auf "bindende" Aussagen bezüglich konkreter Anlagenteile achten müssen, sondern auch auf so selbstverständliche Aussagen wie "bei der Erteilung späterer Teilgenehmigungen würde die Behörde sich an die gesetzlich vorgeschriebenen Richtlinien (z.B. die Berechnungsgrundlage) halten."

Die Konsequenz daraus: Nun müssen noch mehr Teilgenehmigungen beklagt werden, um nicht schon aus formalen Gründen einen Prozeß zu verlieren. Das ist kaum noch bezahlbar, abgesehen von dem Arbeitsaufwand und den psychologischen Belastungen mit deren Folgen für das Familienleben.

Nach Artikel 19 Absatz 4 Grundgesetz steht es jedem Bürger zu, Behördenentscheidungen gerichtlich überprüfen zu lassen. Dieses Grundrecht ist nun - nachdem Atomprozesse sowieso gleich bei den Oberverwaltungsgerichten anhängig werden - noch weiter ausgehöhlt worden. Ich stehe deshalb vor der Frage, ob ich es auf mich nehmen soll (und muß), gegen die Nichtzulassung der Revision Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht einzulegen, damit dieses (Fehl-) Urteil nicht bestandskräftig wird.

Wie ist es dazu gekommen?

Diese unsägliche Idee stammt aus dem Hause des beklagten Energieminister Jansen. Das Gericht hat sie begierig aufgegriffen.

Mit den zutreffenden Sachargumenten meiner Klagebegründung bestanden gute Chancen, die Betriebsgenehmigung für das AKW Brokdorf auszuhebeln. Der schleswig-holsteinische Energie- und Ausstiegsminister Jansen hätte dann eine neue, viel schärfere (oder auch keine) Betriebsgenehmigung ausstellen müssen (können). Das hat er nicht gewagt. Eine lasche neue Betriebsgenehmigung auszustellen, hat er auch nicht gewagt, weil er so das Vertrauen der vielen Schleswig-HolsteinerInnen - der Ausstieg läge bei ihm in guten Händen - verloren hätte. Deshalb war es von Anfang an das politische Ziel Jansens, meinen Prozeß sowohl inhaltlich (Antrag auf Klageabweisung als auch politisch mit der Behauptung, die Latte für seinen Ausstieg würde höher gelegt) vom Tisch zu bekommen.

Besonders infam war, daß Jansen bis zur mündlichen Verhandlung am 13/14.6.1989 keine Begründung für diese Behauptung angegeben hat. Dadurch war es mir unmöglich, den BürgerInnen, die natürlich den Ausstieg durch meinen Prozeß nicht gefährdet sehen wollten, ihre Angst zu nehmen. Statt den Prozeß zur Mobilisierung und Aufklärung vor den Gefahren der Atomenergienutzung zu benutzen, hat Jansen mich isoliert.

Auf alle meine Bemühungen, mit Jansen über den Nutzen (oder Schaden) meiner Klage zu diskutieren, ist Jansen nicht eingegangen. Dieses arrogante Verhalten änderte sich schlagartig, als in der mündlichen Verhandlung offenbar wurde, welchen Schaden er mit seiner Idee angerichtet hatte, die wohl ursprünglich nur geboren wurde, um zu verhindern, daß das Gericht meine Sachargumente überprüft.

Die rechtspolitische Tragweite ist vom zuständigen Abteilungsleiter nicht erkannt worden. Das wird die Latte für zukünftige Kläger gegen Atomanlagen noch höher legen. Dagegen hat die mündliche Urteilsbegründung ergeben, daß meine Klage die Latte für Jansens Ausstieg keineswegs höher gelegt hat. Diese Behauptung war und ist ein parteitaktischer Winkelzug.

Ob sich daraus ergibt, daß Jansen gar nicht aussteigen wird, bleibt offen. Fest steht, daß Jansens Behörde in diesem Prozeß schwerwiegende Fehler unterlaufen sind. Es steht zu fürchten, daß der Ausstieg durch fachlichen Dilettantismus in der Reaktorsicherheitsabteilung und fehlende politische Kontrolle durch Jansen verspielt wird.

Wird Jansen nun endlich auf den Sachverstand in der Anti-AKW-Bewegung zurückgreifen?