Vor 20 Jahren wurde Brokdorf zum Symbol der Anti-AKW-Bewegung

Hunderttausend gegen ein Atomkraftwerk

Zwei Jahrzehnte ist es schon her: Ende Februar 1981 versammelten sich
100000 Menschen in der Wilster Marsch bei Brokdorf zur bis dahin größten
Demonstration gegen ein Kernkraftwerk in der Bundesrepublik. 10000
Polizisten wurden aufgeboten, um Gewalt am Bauzaun zu verhindern.

HAMBURG

Friedhelm Schachtschneider

Es war kalt am 28. Februar 1981: Eisiger Wind pfiff über die Wilster Marsch am schleswig-holsteinischen Elbufer und blies den Protestlern ins Gesicht. Sie gingen über Feldwege, stapften über vereiste Wiesen, stiegen über Weidezäune und sprangen über Gräben: 100 000 Menschen waren in den Kreis Steinburg gekornmen, um gegen den Bau des Atomkraftwerks Brokdorf zu demonstrieren.

Die Kieler Landesregierung - allen voran der damalige Innenminister Uwe Barschel (CDU) sprach von gewaltbereiten "Reisechaoten" und wollte Gewalt ein Bauzaun mit allen Mitteln verhindern - auch mit mehr als 10000 Beamten, dem bis dahin größten Polizeiaufgebot in der Geschichte der Bundesrepublik. Tausende Autos wurden bereits auf der Anfahrt angehalten und durchsucht, am Morgen war die Autobahn Hannover-Hamburg vor den Toren der Hansestadt vollständig blockiert. Die angereisten Demonstranten wussten bei ihrer Abfahrt oft nicht, ob sie sich mit ihrer Teilnahme strafbar machten. Der Landrat hatte ein dreitägiges Demonstrationsverbot für die Wilster Marsch erlassen. Das Verwaltungsgericht Schleswig hob das Verbot am Tag vor der Kundgebung teilweise auf und zog die "Bannmeile" um das Kraftwerksgelände deutlich enger. Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg bestätigte dann am Demonstrationstag selbst aber das ursprüngliche Verbot wieder.

Zwischen der Kreisstadt Itzehoe und dem Elbufer bei Brokdorf hatte die Polizei alle Wege gesperrt und Zehntausende zurückgehalten. Oft mehrere Kilometer von Brokdorf entfernt protestierten sie unter dem Lärm tief fliegender Hubschrauber des Bundesgrenzschutzes friedlich gegen die Atomkraft - unter vielen auch Gerhard Schröder von den niedersächsischen Jusos.

Nach und nach kamen aber mehr als 20000 Menschen in die unmittelbare Nähe des Bauzauns. Dort gingen später militante Gruppen mit Steinen, Stahlkugeln und Leuchtspurmunition gegen das mit Stahlsperren und Stacheldraht befestigte Baugelände vor, Die Polizei drängte sie mit Wasserwerfern und Tränengas zurück. Nach Angaben des Kieler Innenministeriums wurden 128 Polizisten und eine unbekannte Zahl von Demonstranten verletzt. 250 Kundgebungsteilnehmer wurden vorläufig festgenommen,

Den schwersten Zwischenfall gab es im Hin und Her zwischen Atomkraftgegnern und Polizisten auf den Wiesen im Umland. Bei der Verfolgung von Demonstranten war ein Polizist in einen Graben gestürzt. Zwei 22 und 39 Jahre alte Männer schlugen ihm mit Knüppel und Spaten den Helm ein und verletzten ihn schwer. Wegen Mordversuchs wurde wochenlang nach den Tätern gefahndet. Ihre juristische Verfolgung endete nach mehreren Prozessen erst fast vier Jahre später. Das Landgericht Kiel verurteilte sie wegen gefährlicher Körperverletzung und Landfriedensbruchs zu 28 Monaten Haft und einer Jugendstrafe auf Bewährung.

Auch für den Anmelder Jo Leinen von der Bürgerinitiative Umweltschutz Unterelbe hatte die teils verbotene Großdemo ein juristisches Nachspiel. Als ihn 1985 der Bundesgerichtshof in Berlin endgültig freisprach - das Bundesverfassungsgericht hatte festgestellt, dass das Verbot verfassungswidrig war - war Leinen saarländischer Umweltminister unter SPD-Regierungschef Oskar Lafontaine.

Als der Streit vor den Gerichten ausgetragen wurde, liefen die Bauarbeiten in Brokdorf relativ störungsfrei. Im Oktober 1986 erhielt der 1300Megawatt-Druckwasserreaktor seine Betriebsgenehmigung, Und Uwe Barschel, inzwischen Ministerpräsident in Kiel, feierte das frühere bundesweite Symbol des Widerstands gegen die Atomenergie als "sichersten Kernreaktor, den es auf der Welt gibt".
(Ino)