SoZ - Sozialistische
Zeitung Nr.23 vom 08.11.2001, Seite 8
25
Jahre Anti-AKW-Bewegung
Neue politische Landkarte
Die nächsten Wochen
und Monate werden einer ganzen Generation von UmweltschützerInnen,
von Linken, Grünen und SozialdemokratInnen, von Vätern
und Müttern, gescheiterten Umwelt- und Ministerpräsidenten,
von Wissenschaftlern und Kirchenmännern, von Industriebossen
und Gewerkschaftsführern viele Anlässe geben, sich an
eine fulminante Periode in ihrem Leben zu erinnern. Vor 25 Jahren
wurde die Bundesrepublik von einer politischen Massenbewegung
erschüttert, die auf die Gesamtheit der Gesellschaft mehr
als alle anderen politischen Bewegungen und bis heute nachhaltig
Einfluss gehabt hat. Wenn heute der zweitpotenteste imperialistische
Staat der Welt von einer Regierung geleitet wird, die sich selbst
als "rot-grün" bezeichnet und weder das übrige
imperialistische Lager gegen diese Merkwürdigkeit zu Felde
zieht, noch die von ihr regierte Gesellschaft in laute Wut und
Gelächter ausbricht, weil die Damen und Herren im Berliner
Reichstag in Wirklichkeit weder "rot" noch "grün"
sind - dann muss auf allen Ebenen der Gesellschaft das politische
Bewusstsein geschüttelt und nicht nur gerührt worden
sein. Riskieren wir eine Bilanz
Am 26.Oktober 1976
beginnen um 1 Uhr nachts Bautrupps auf einem Stückchen Grasland
in der Wilster Elbmarsch bei der Ortschaft Brokdorf eine Festungsanlage
mit hohen Zäunen, Wassergraben und Hubschrauber-Landeplatz
auszubauen. Sie werden, wie es in den Radionachrichten heißen
wird, von "starken Polizeikräften geschützt".
Ziel der sonderbaren Nachtschicht ist es, den "sofortigen
Vollzug der ersten Teilgenehmigung zum Bau des Kernkraftwerkes
Brokdorf sicher zu stellen". Die schleswig-holsteinische
Landesregierung unter Ministerpräsident Stoltenberg hat sich
für diese kostspielige Konspirativität aus gutem Grund
entschieden.
Bereits seit Anfang
der 70er Jahre entwickelte sich an mehreren Orten, an denen Atomanlagen
gebaut oder geplant wurden, heftiger Widerstand der dort ansässigen
Bewohner, die sowohl eine unübersehbare Gefährdung ihrer
Gesundheit als auch eine umfassend spürbare Minderung der
Lebensqualität ihrer Region und der Verwertbarkeit der dort
laufenden landwirtschaftlichen Produktion befürchteten.
Sie nutzten sämtliche Möglichkeiten aus, den normalen
Gang der Bauvorhaben mittels Einsprüchen, Verwaltungsgerichtsklagen
und politischer Stimmungsmache in den Regionen zu behindern. Da
Genehmigungsverfahren nicht auf eine massenhafte Ausübung
des demokratischen Einspruchsrechts ausgelegt waren, wurden Baubehörden,
Lokalpolitiker und Energieunternehmen zunehmend nervös.
Niemals vorher gehörte
Ortsnamen erhielten dadurch eine gewisse Publizität: Grafenrheinfeld,
zum Beispiel, was sich sicherlich auch viel schöner anhört
als die nächstliegende Stadt Schweinfurt. Dort sammelte die
"Bürgeraktion Umwelt- und Lebensschutz" schon 1972
36.000 Unterschriften gegen das Atomkraftwerk. Oder Esenshamm,
an der Unterweser, wo der "Arbeitskreis gegen radioaktive
Verseuchung" bereits ein Jahr zuvor 40.000 Protesterklärungen
einreichte.
Am bekanntesten wurde
allerdings ein Ort am Oberrhein, der sonst nur versierten Weinkennern
als Geheimtipp galt: Wyhl. Dort kam es 1975 zu einem kleinen Bürgerkrieg.
Die Gegner des geplanten Atomkraftwerks begnügten sich nicht
mit Einsprüchen. Sie zeigten dem Landwirtschaftsminister
Eberle, dass eine Gülle-Hochdruckspritze auch gut zum Politikerverjagen
geeignet ist.
Sie übernahmen
wenig später ein Beispiel, das ihnen die französische
Bevölkerung in den benachbarten Orten Fessenheim und Marckolsheim,
auf der anderen Rheinseite, lieferte, die dort die Bauplätze
vom geplanten Atomkraftwerk beziehungsweise einer Bleifabrik belagerten
und besetzten. 30.000 Menschen demonstrieren im Februar 1975 am
Bauplatz in Wyhl, viele von ihnen bleiben auf dem Platz und bauen
ihre eigene kleine Besetzerwelt mit der "Volkshochschule
Wyhler Wald" und dem hölzernen "Freundschaftshaus"
im Mittelpunkt immer weiter aus.
Hatten die ersten Proteste gegen Atomanlagen nur in unbedeutenden
und politisch obskuren Vereinigungen, wie dem "Weltbund zum
Schutz des Lebens", der "Aktionsgemeinschaft unabhängiger
Deutscher" oder dem "Deutschen Bund für Lebensschutz"
sowie bei einzelnen Wissenschaftler und Politikern der großen
Parteien, wie den Bundestagsabgeordneten Gruhl (CDU) und Bechert
(SPD), Unterstützung gefunden, so kamen nach Wyhl auch schon
viele Unterstützer aus dem nahen Freiburg und Anhänger
der Gruppen oder Positionen der neuen Nach-68er-Linken.
Aber mehr als regionale Ausstrahlung hatten die Vorkommnisse im
oberrheinischen Dreiländereck noch nicht. Auch wenn der unübersehbar
vom maoistischen Impetus geprägte Film von Nina Gladitz über
die Besetzung in Wyhl zum Renner in den Programmkinos anderer
Großstädte wurde.
Geburt einer Massenbewegung
Vier Tage später
ziehen 8000 Atomkraftgegner, viele davon aus Hamburg, zum Bauplatz
nach Brokdorf. Sie haben offen eine Platzbesetzung angekündigt
und kampieren auf der einen Platzhälfte. In der Nacht kommt
es zu einem Polizeiüberfall mit, wie es am folgenden Abend
in den NDR-Nachrichten heißt, "unfassbarer Brutalität".
Mit Knüpppeln, Tränengas und Hunden werden die Besetzer
vertrieben.
Die Regierung hat überzogen, die Massenmedien widmen sich
plötzlich den AtomkraftgegnerInnen und popularisieren deren
Anliegen. In nur zwei Wochen überzieht eine Anti-AKW-Bewegung
die gesamte Bundesrepublik. Dort, wo es kleine Zirkel von Atomkraftkritiker
gab, erhalten sie gewaltigen Zulauf, anderswo werden Gruppen neu
gegründet und allseits werden Crash-Kurse in Atomphysik verabreicht.
Am 13.November 1976
kommt es zur legendären "Brokdorf-II"-Demonstration.
Bundesweit zusammengekommene AKW-Gegner aus allen Bevölkerungsschichten
laufen zum Bauplatz, wo eine stundenlange Schlacht mit der Polizei
stattfindet. Der Bauplatz glich einer Festung: metertiefer und
-breiter Wassergraben, NATO-Drahtrollen, Gitterzaun und eine Armee
von Polizei und Werkschutz mit Wasserwerfern, Pferden, Hunden,
Hubschraubern. Aus der Luft werden wahllos Tränengasgranaten
in die Menge geworfen und auf dem Heimweg von der Kundgebung werden
willkürlich ausgewählte Personen verprügelt, festgenommen
oder sonst wie schikaniert.
In den folgenden Wochen
verändert sich die Republik. Buchstäblich überall,
in den Städten wie in kleinsten Orten, an Schulen und Universitäten,
in Kirchengemeinden und noblen Wissenschaftlerkreisen, bei Juristen,
Theologen und Agrarwissenschaftlern, selbst bei Polizei und Feuerwehr,
in allen politischen Parteien und Gruppierungen, in der Landjugend
wie bei den Pfadfindern entstehen "Arbeitskreise gegen die
Atomkraft" oder "Bürgerinitiativen". In Hamburg
wächst die betuliche "Bürgerinitiative Umweltschutz
Unterelbe", die seit mehreren Jahren gegen das AKW Brokdorf
protestierte, schlagartig auf weit über tausend Mitstreiter
in mehr als 20 Unter- und Stadtteilgruppen an.
Im Laufe des folgenden
Jahres wächst diese Bewegung ununterbrochen an. Der Bundesberband
Bürgerinitiativen Umwelschutz vermeldet Ende 1977 knapp 1000
Mitgliedsinitiativen und mehr als 300.000 aktive Mitglieder. Ein
Adressbuch der Anti-AKW-Bewegung registriert 1977 mehr als 1500
Bürgerinitiativadressen. Der Kampf gegen die Atomanlagen
wird zu einer bundesweiten, sehr bald auch internationalen Angelegenheit.
Zu den Demonstrationen
an den jeweiligen Orten werden Zehntausende von Teilnehmern mobilisiert,
obwohl die Orte fast immer am Arsch der Welt lagen. Am 19.Februar
1977 protestieren 70.000 in zwei Demonstrationen gegen das AKW
in Brokdorf; einen Monat später, am 19.März rennen 20.000
in einer weiteren legendären Bauzaunschlacht gegen die Reaktorbaustelle
in Grohnde/Niedersachsen an.
Am 14.Juli kommt es
zur internationalen Großdemonstration gegen ein AKW-Vorhaben
bei Bilbao im Baskenland, an der mehr als 200.000 Menschen teilnehmen.
Am 30./31. Juli demonstrieren 40.000 aus diversen Ländern
vor dem geplanten Schnellen Brüter im französischen
Malville. In einer unbeschreiblichen Schlacht auf verschlammten
Feldern im Dauerregen und Tränengaswolken zeigt die Sonderpolizei
CRS ihre Skrupellosigkeit. Durch Granaten werden mehreren Menschen
Hände oder Füße abgetrennt, der Lehrer Vital Michalon
stirbt durch eine neben ihm explodierte Granate.
Am 24.September versuchen
über 100.000 Menschen, zu einer Demonstration am Gelände
des deutschen Schnellen Brüters in Kalkar am Niederrhein
zu gelangen. In einem nie da gewesenen Bürgerkriegsmanöver
überzieht die Polizei die gesamte Bundesrepublik mit Kontrollen
und Überfällen. Mit Hubschraubern werden Eisenbahnzüge
angehalten, Buskonvois dürfen ihre Städte nicht verlassen.
70.000 erreichen schließlich in den späten Nachmittagsstunden
den Demonstrationsort.
Noch bis 1981 entwickelt
sich die Anti-AKW-Bewegung zu einer Massenbewegung weiter. 1979
demonstrieren 100.000 in Hannover gegen die Atomanlagen in Gorleben
und überall. Am 14.Oktober 1979 kommen 150000 nach Bonn und
protestieren gegen die atomaren Pläne der Bundesregierung.
Am Karnevalssamstag, 28.Februar 1981, ist wiederum Brokdorf für
100.000 Menschen das Ziel, trotz klirrender Kälte und bestehendem
Demonstrationsverbot.
Erst danach scheint
der Höhepunkt der Bewegung überschritten zu sein. Es
kommt aber immer wieder zu sehr großen Mobilisierungen gegen
Atomanlagen. Vor allem in Gorleben gegen die Atomlager, 1982-1989
gegen die geplante Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf und
bis heute gegen die Atomtransporte im Castor-Behälter.
Hunderttausende protestieren
auch gegen den Bau der Flughafenstartbahn in Frankfurt. Nach dem
schweren Reaktorunfall von Tschernobyl Ende April 1986 kommt es
zu einem erneuten Aufschwung der Bewegung. Am 7.Juni demonstrieren
wieder 100.000 in Brokdorf, jetzt allerdings gegen die Inbetriebnahme
des fertigen Reaktors.
Die Bewegung lebt
Wie sehr der Begriff
"Massenbewegung" angemessen ist zeigt sich am Innenleben
der Bewegung. Keine politische Kampagne oder Bewegung hat in Deutschland
so eine intensive eigene Bewegungskultur hervorgebracht. Neben
der unübersehbaren Vielfalt in Form und Ausprägung der
verschiedenen Initiativen, gab es bald regionale Zentralisierungen
und in der Regel zwei Mal jährlich einberufenen Bundeskonferenzen.
An ihnen nahmen 1977 bis zu tausend, 1980 sogar bis zu 1500 Delegierte
aus an die 300 Initiativen teil.
Hunderte von fantasievollen
Aktionen, die bis heute zahlreich bei anderen Anlässen kopiert
werden, verdanken ihren Ursprung der Anti-AKW-Bewegung. Vor allem
im Zusammenhang mit den Besetzungsaktionen von Wyhl bis Gorleben
blühte zwischen Hüttendörfern und Freundschaftshäusern
die Kreativität. Die aktive Blockade und Besetzung als Aktionsform
wurde populär gemacht. Selbst die biedere DGB-Gewerkschaftsbewegung
griff in den Folgejahren im Kampf gegen Betriebsstilllegungen
oder 1984/85 im Streik für die 35-Stunden-Woche solche Aktionsformen
auf.
Nur in der Anti-AKW-Bewegung
ist in Nachkriegsdeutschland bisher auch die "Direkte Aktion"
erfolgreich durchgeführt worden: Behinderung von Eisenbahnzügen
und LKWs, Sabotageaktionen, Absägen von Strommasten und ähnliches
haben die Bewegung stets begleitet, oft unter ihrem Beifall und
vorwärts treibend, zuweilen aber auch deplatziert und der
Bewegung nicht mehr vermittelbar.
Mehr als zwei Dutzend
Zeitschriften aus der und für die Bewegung wurden in den
Jahren 1976-1979 geschaffen. Im Archiv des Autors schlummern allein
knapp 30 verschiedene Titel. Die älteste überregionale
Zeitschrift Atom stellte erst 1994 ihr Erscheinen ein. Broschüren,
Bücher, Flugblätter mit Hunderttausenden Exemplaren
wurden geschrieben und publiziert. Allein die Broschüre Es
geht auch anders wurde mit einer Anfangsauflage von 500.000 hergestellt.
Spätestens 1977
hatten alle großen Buchverlage ihre eigenen Umweltschutz-,
Ökologie- oder Anti-AKW- Titel oder gar -Reihen. Das Bremer
Liederbuch der Bewegung geriet mit mehreren Auflagen zu einem
Bestseller. Gleichzeitig verdanken zahlreiche Kleinkünstler
und Künstlergruppen ihren Karrierebeginn der Anti-AKW-Bewegung.
Im Süden Deutschlands und im Wendland etablieren sich eigene
Radiosender der Anti-AKW-Bewegung. 1979 wird maßgeblich
auf der Basis der Erfahrungen der Anti-AKW-Bewegung die erste
autonom-linke Tageszeitung, die bis heute existierende Taz, gegründet
- wer sie heute liest, mag an diesem Ursprung vielleicht zweifeln,
es ist aber wahr.
In kürzester Zeit schuf sich die Anti-AKW-Bewegung auch ein
wissenschaftliches Fundament. Hunderte von Biologen, Physikern,
Agrarwissenschaftlern, Ingenieuren, Juristen und andere Spezialisten
stellten sich der Bewegung zur Verfügung, um fundiert der
Gegenpropaganda der Regierung und den Anwälten und Richtern
bei Prozessen Paroli bieten zu können. Mehrere, teilweise
heute als etablierte Institute bestehende Einrichtungen wurden
1977-1979 im Rahmen der Anti-AKW-Bewegung gegründet. Selbst
die Ökobank hat die ideellen Wurzeln ihrer Gründung
im Widerstand gegen die Atomanlagen.
Die Linke marschiert
Die Anti-AKW-Bewegung
hätte ihre rasante Ausdehnung von einer lokalen Protestinitiative
zu einer gesamtgesellschaftlichen Massenbewegung nicht erreichen
können ohne die Mitarbeit der linken Organisationen. Sowohl
die locker organisierte Linke, die sich selber gern mit dem Namen
"Autonome" schmückt, als auch die maoistischen
Kommunistische Partei Deutschlands (KPD), KPD/Marxisten-Leninisten
(KPD/ML), Kommunistischer Bund Westdeutschland; der etwas flexiblere
Kommunistische Bund, die trotzkistischen Organisationen Gruppe
Internationale Marxisten und Spartacusbund, als auch die moskautreue
Deutsche Kommunistische Partei sowie zahlreiche kleinere Grüppchen
warfen ab Ende 1976 und 1977 fast ihre gesamten Kräfte auf
die Anti-AKW-Bewegung. Das waren sicher zwanzigtausend erfahrene
und einsatzbereite Kräfte.
Insbesondere die KPD
und der KBW, lokal unterschiedlich auch die DKP, brachten mit
ihren Parteiapparaten auch ein erhebliches Potenzial mit.
Die Linke witterte
eine große Chance, ihre bis dahin völlige gesellschaftliche
Isolierung zu überwinden. Aus dieser Perspektive war die
Anti-AKW- Bewegung der Versuch der Nach-68er-Linken, zum ersten
Mal wirkliche Massenpolitik zu betreiben.
Nun gibt es sicherlich
unzählige Beispiele, wo die realitätsuntüchtigen
Ideologien der Focus-Theoretiker und Sozialrevolutionäre
bei den "Autonomen" wie auch der Maostalinisten aus
den K-Gruppen, das Leben und die Arbeit der Anti-AKW-Initiativen
negativ durch Machtpolitik, verblendete Manöver, Gruppen-Konkurrenzen
oder schlicht haarsträubende Vorschläge beeinträchtigt
haben. Aber das wird heute alles vergessen sein.
Die wirklich existenzielle
"Beeinträchtigung" geschah nämlich anders
herum: die Anti-AKW- Bewegung veränderte diese linken Organisationen
nachhaltig. So sehr, dass die meisten von ihnen später hilflos
ihrem eigenen Untergang zusahen. Ein Teil der K-Gruppen und die
DKP gerieten schon von Beginn an ins Rutschen. Ihre Verteidigung
von russischen, ostdeutschen oder chinesischen Atomanlagen als
gut und sicher, während sie gegen die westdeutschen vehement
zu kämpfen vorgaben, musste die ideologische Verunsicherung
eimerweise ins eigene Hauptquartier schütten.
Mit der neuen Bewegungsstruktur,
den "Bürgerinitiativen", die in der marxistischen
Terminologie im Grunde nichts anderes als Aktionseinheiten sind,
konnten die bürokratisch, und eher religiös als marxistisch
organisierten KPD und KBW, aber auch der nicht minder bürokratisch
verfasste, wenn auch ideologisch flexiblere KB nichts anfangen.
Es wurde darin im großen Stil mit Leuten zusammengetroffen,
mit Sozialdemokraten, Liberalen, Kirchgängern, ja Konservativen,
die nichts von der Linken wussten, folglich wenig von ihr hielten
und trotzdem "irgendwie fortschrittlich" waren.
Während KPD und
KBW sehr bald ihre Leute in den Initiativen treiben ließen
und damit immer mehr ihre organisatorische Basis selbst aufrieben,
versuchte sich der vor allem in Norddeutschland einflussreiche
KB mittels formaler Machtpolitik durchzusetzen. Er füllte
die Initiativen auf und sparte nicht mit den für Aktionseinheiten
fast immer tödlichen "Kampfabstimmungen".
Nicht selten schuf
er sogar eigene parteiliche "Bürgerinitiativen".
Die schönste Blüte ist dabei immer noch die - Originaltitel
- "Bürgerinitiative - Chemiearbeiter gegen Atomanlagen"
aus Hamburg, der damals die heute noch bekannten Größen
Rainer Trampert und Thomas Ebermann vorstanden.
Wenn die "proletarische
Theorie" aber so unverblümt in "bürgerliche"
Identitäten schlüpft, so entstehen sehr schnell doppelte
Loyalitäten. Spätestens als mit der Anti-AKW-Bewegung
Wahlpolitik betrieben werden sollte, standen dann plötzlich
KB- Schöpfungen gegen ihre eigenen Meister auf, oder allzu
eifrige "Initiativenkämpfer" ließen ihre
KB-Zugehörigkeit hinter sich fallen.
Es gab auch einige
Linke, z.B. aus dem Umfeld des Sozialistischen Büros, später
auch bei den ausgetretenen K- Grupplern, die sahen die Bürgerinitiativen
als neues revolutionäres Subjekt, als Vorwegnahme von zukünftigen
Räten. Sie erklärten die Umwelt zerstörende Seite
des Kapitalismus für den in Zukunft entscheidenderen Widerspruch,
an den sich die Menschen mehr radikalisieren würden als am
Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital. Aus heutiger Sicht
lässt sich nur sagen: welch ein Irrtum.
Auch die bescheidene
Linke in der SPD widmete sich mit Lust und Leidenschaft der Anti-AKW-Bewegung.
Es dauerte ein wenig länger, aber schließlich beschließt
die SPD 1986 auf ihrem Nürnberger Parteitag den Ausstieg
aus der Atomenergie in zehn Jahren. 15 Jahre später, in diesem
Frühjahr wurde die Frist noch einmal auf über 30 Jahre
verlängert. So ist sie halt, die Mutter aller Abwiegelei:
45 Jahre hinter dem Mond. Zuvor tobten aber heftige Kämpfe
in allen SPD-Landesverbänden. Nicht wenige Sozialdemokraten
verließen die Partei und beteiligten sich am Parteiprojekt
"Die Grünen" oder den Demokratischen Sozialisten.
In den Gewerkschaften versammelte sich zunächst die Rechte,
die völlig abgedrehten Betriebsratsfürsten aus der Kraftwerks-
und Elektrizitätsindustrie. Sie pöbelten in Anzeigen
und sonstigen Auftritten gegen die Atomkraftgegner. Ihren Klüngel
nannten sie "Aktionskreis Energie". Dem zu kontern,
gründete die Gewerkschaftslinke 1977 den "Aktionskreis
Leben", der viel Aufsehen und Anhang in der gewerkschaftlichen
Diskussion erreichen konnte.
Heimholung ins Reich
der Demokraten
Die Anti-AKW-Bewegung
hat in dem Jahrzehnt 1976-1986 die bundesrepublikanische Gesellschaft
erschüttert. Die Haltung der Mehrheit der Menschen und so
gut wie aller politischen Institutionen wurde radikal verändert:
von einer eher euphorischen Haltung für die Atomenergie zu
einer tiefen Skepsis dieser "Übergangstechnologie"
gegenüber. Zeitweilig war eine Mehrheit der Bevölkerung
für bedingungsloses Abschalten der Atomkraftwerke.
Praktisch wurden wichtige
Vorhaben aus der Atomtechnologie verhindert: vor allem alle Bestandteile
der Atomtechnologie der nächsten Generation wie dem Schnellen
Brüter in Kalkar, der Hochtemperaturreaktor in Hamm und der
Wiederaufbereitung in Gorleben und Wackersdorf oder die Verlängerung
der Plutoniumfabriken in Hanau. Sie alle wurden, wie es der niedersächsische
Ministerpräsident so treffend formulierte, "politisch
nicht durchsetzbar". Von den heiß umkämpften AKW-Vorhaben
wurde lediglich das Wyhl-Projekt eingestampft.
Nimmt man aber die
ernst gemeinten Studien der Atomindustrie aus Anfang der 70er
Jahre, dann wären bis in die 80er Jahre fast fünfhundert
neue Atomanlagen verwirklicht worden. In diesem Sinne wurde also
eine tatsächliche Besinnung erreicht. Zugleich hat die Anti-AKW-Bewegung
generell das "Jahrhundert-Thema" Umweltzerstörung
eröffnet, dass insgesamt den positiven Bezug auf die "Allmacht"
der kapitalistischen Technologie und Produktion erschüttert
hat.
Dass die Bewegung nicht
noch erfolgreicher war, dass vor allem keine politische Radikalisierung
auch für andere gesellschaftliche Themen und Bereiche möglich
gemacht wurde, liegt vor allem an der fatalen Entscheidung eines
Teils der Bewegung, sich als Bewegungsinitiative an Wahlen zu
beteiligen. Diese Idee kam 1978 ausgehend von Kandidaturen französischer
Atomkraftgegner und von einigen rechten Kräften, denen die
kämpferische Anti-AKW-Bewegung zu radikal, zu "schmutzig"
war.
Bis 1980 wurden dann verschiedene grüne oder bunte Wahlinitiativen
gebildet, die einen großen Aufschwung erhielten, als sich
wesentliche Teile der Linken entschieden, daran mitzumachen, allen
voran der KB. Das Ergebnis ist heute in aller Pracht zu betrachten:
die Anti-AKW-Bewegung wurde enthauptet. Die Partei der Grünen
hat die alte Stellvertreterpolitik verfolgt und einen Verrat nach
dem anderen begangen. Die linken Organisationen KPD, KPD/ML, KBW,
KB, SB, GIM und viele andere sind aufgelöst und weitgehend
verschwunden. Die Sozialdemokratie streicht sich zufrieden das
Bäuchlein: mal wieder eine rebellische Bewegung erfolgreich
für den Kapitalismus domestiziert.
Was heute bleibt ist eine reduzierte Anti-Atom-Bewegung. Sie kämpft
verbittert gegen die Castor-Transporte und andere letzte Schlüsselprojekte
zur Aufrechthaltung der Atomkraftwerke. Gerade dieser Tage sind
neue Aktionen gegen Transporte ins Wendland geplant. Sie verdienen
breiteste Unterstützung. Die Orientierung auf die Grünen
ist Desillusionierung gewichen, aber wer weiß, ob nicht
eine neue kämpferische Generation heute fast zehn Jahre nach
Beginn der Domestizierung der Anti-AKW-Bewegung schon auf neue
radikale Aktionen wartet.