Dr. Karsten Hinrichsen, Dipl.-Met., Brokdorf
Heiko Ziggel, Dipl.-Phys., Bremen

10.2.2000

Plädoyer für den Sofortausstieg aus der Atomenergienutzung
- ein Gegen-Memorandum

Im September 1999 veröffentlichten ca. 570 deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein Memorandum zum geplanten Atomenergieausstieg in Deutschland. In diesem Memorandum bezweifeln die Autorinnen und Autoren, daß der von der Bundesregierung angestrebte Atomausstieg "sachgerecht und verantwortungsbewußt" ist. Weiterhin fordern sie die Bundesregierung auf, "eine ernsthafte Neubewertung der Kernenergie vorzunehmen und im Lichte der Ergebnisse ihre Energiepolitik zu überdenken". Für die Neubewertung nennen die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner zehn Gesichtspunkte, welche aus ihrer Sicht "vor allen Dingen berücksichtigt werden" sollten. Gleichzeitig bieten sie einen Dialog an mit dem Ziel, "eine zukunftsfähige Energiepolitik in Deutschland zu entwickeln, die ökonomischen, ökologischen und sozialen Zielen gleichermaßen gerecht wird".

Wir, die Verfasserinnen und Verfasser dieses Gegen-Memorandums, greifen dieses Dialogangebot auf und stellen hiermit unsere Position zur Frage des Atomenergieausstieges vor. Wir wollen auf die Aspekte einzugehen, welche im Memorandum der deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler angesprochen werden, um die unterschiedlichen Einschätzungen und Bewertungen möglichst deutlich zu Tage treten zu lassen. Um dabei nicht zu kurz zu treten, sollen vorab in der gebotenen Kürze unsere Gründe für eine Ablehnung der Atomenergie sowie Kriterien für eine zukunftsfähige Energiepolitik dargelegt werden.

Gründe gegen die Atomenergienutzung
Die Atomenergienutzung ist untrennbar verbunden mit der Gefahr katastrophaler Unfälle, mit radioaktiver Verseuchung, mit der Gefährdung und Schädigung von Mensch und Umwelt auch im sog. "Normalbetrieb", mit der Verbreitung von Nuklearwaffen, mit der Ausbeutung industriell wenig entwickelter Länder, mit dem Verhindern einer zukunftsfähigen Energieversorgung sowie mit gesellschaftlichen Veränderungen, die mit dem Begriff "Atomstaat" umschrieben werden können. Grundsätzliche Fragen sind auch heute noch, d.h. über 50 Jahre nach Beginn der Nutzung der sog. "friedlichen" Atomenergie, ungelöst, wie z.B. die Entsorgung, der Verbleib des erzeugten Plutoniums, sicherheitstechnische Probleme, die Wirkung niedriger Strahlendosen auf den Menschen, etc.

Alle Fortschritte auf anderen Politikfeldern können durch einen SuperGAU und den Einsatz von Atomwaffen mit einem Schlage zunichte gemacht werden, weil deren Folgen unermeßlich sind im Hinblick auf menschliches Leid und wirtschaftliche Auswirkungen. Letztere werden eine sozial verträgliche Familien-, Renten-, Bildungs-, Sozial- und Wirtschaftspolitik auf lange Zeit unmöglich machen. Eine Technologie, die wegen ihres Gefahrenpotentials niemals versagen darf, ist unmenschlich.

Der Weiterbetrieb der Atomkraftwerke (AKW) behindert die Energiewende, deren Ziele eine unter ökologischen Gesichtspunkten verantwortbare Energieerzeugung, eine dezentrale Versorgung mit Energie, die Schonung von Ressourcen, gerechtere Handelsbeziehungen insbesondere mit industriell wenig entwickelten Ländern, die Schaffung neuer Arbeitsplätze usw. sind.

Wir wollen, daß in der Debatte um den Atomausstieg eine dem Gemeinwohl verpflichtete Politik Vorrang hat vor der Befriedigung der Profitinteressen der Energiekonzerne.


Kriterien für eine zukunftsfähige Energiepolitik

1. Der Energieverbrauch ist zu begrenzen und darüber hinaus zu minimieren.
Der Gesamtenergieverbrauch hat sich an der technisch realisierbaren Bereitstellung erneuerbarer Energie zu orientieren. Seine Höhe kann sich bei Technologiesprüngen durchaus ändern.
Darüber hinaus muß ein Minimierungsgebot gelten; d.h. durch Einspar- und Effizienzmaßnahmen ist der Verbrauch von Energie auf das geringstmögliche Niveau zu reduzieren, da jede Energieerzeugung und -umwandlung mit Ressourcenverbrauch und Abfallproblemen verbunden ist.
Auf Grund des für den Bau von Atomanlagen großen Kapitaleinsatzes stellt die Atomenergie eine angebotsorientierte Energiebereitstellung dar. Die von den großen Energieversorgungsunternehmen zur Profitmaximierung angestrebte Steigerung des Energieverbrauchs läuft dem Minimierungsgebot zuwider.
2. Die Erzeugung der (Rest-)Energie muß umweltverträglich und nicht gesundheitsgefährdend sein.
Die Bereitstellung von Energie muß umweltverträglich erfolgen, d.h. die Emission schädlicher Stoffe, die Einwirkung auf die belebte Natur, die Nutzung von Ressourcen wie auch der Landschaftsverbrauch sind zu minimieren. Weiterhin muß eine Gefährdung für zukünftige Generationen ausgeschlossen sein sowie eine Gefährdung von Gesundheit und Leben für die gegenwärtige Bevölkerung. Die Erzeugung von Abfällen ist zu vermeiden.
Die zur Energieerzeugung benötigten Rohstoffe sollten umweltverträglich gewonnen und die verwendeten Materialien umweltschonend hergestellt und entsorgt werden können.
3. Die (Rest-)Energieerzeugung muß ethischen und sozialen Zielen verpflichtet sein sowie Handelskonflikte und Kriege vermeiden.
Eine zentrale Energieversorgungsstruktur in der Hand weniger großer Monopolgesellschaften kann dem Kantschen kategorischen Imperativ ("Tue niemandem etwas an, was er/sie dir auch nicht antun soll") und dem ökologischen Imperativ nach Immler ("Nutze die Natur so, daß sie sich so schnell regenerieren kann, daß auch kommenden Generationen die Ressourcen der Natur [saubere Luft, Wasser, Rohstoffe usw.] zur Verfügung stehen") nicht genügen. Die Energieerzeugung darf nicht allein dem Diktat kapitalistischer Interessen unterstehen.
Wer Verfügungsgewalt über Energie hat, hat Macht über Menschen und übt Gewalt aus gegenüber der Natur.
Energiewirtschaft muß sich daran messen lassen, ob sie sozial und wirtschaftlich gerecht (im Sinne einer globalen Gerechtigkeit) ist, ob sie anti-kapitalistisch und anti-monopolistisch organisiert ist und ob sie durch ihre ökonomische Machtfülle keine Gefährdung für demokratische Staaten darstellt.

Unsere Antwort auf die 10 Punkte des Memorandums

1. Fortschritte der Sicherheitstechnik
  Bereits die in den siebziger Jahren errichteten bundesdeutschen AKWs wurden schon damals euphorisch als die sichersten der Welt gepriesen. Gleichlautende Aussagen sind aus allen Ländern, die über eine eigene Atomindustrie verfügen, zu vernehmen, so daß am Wert derartiger Verlautbarungen berechtigter Zweifel besteht. Doch trotz des vermeintlich hohen Sicherheitsniveaus deutscher AKW wurden in der Vergangenheit milliardenschwere Nachrüstungen erforderlich, weil Risikostudien und Unfälle erhebliche Sicherheitsdefizite offenbart hatten: Auslegungs- und Konstruktionsfehler, Materialschwächen, Unfälle infolge unzulässiger Handlungen des Betriebspersonals, etc. Die sicherheitstechnischen Verbesserungen mußten von den Aufsichtsbehörden nur zu oft gegen den erbitterten Widerstand der Betreiber durchgesetzt werden bzw. es wird noch heute darum gerungen oder sie wurden nur teilweise realisiert.
Der derzeit erreichte Stand der Sicherheitsvorsorge kann dennoch Kernschmelzunfälle in Deutschland, deren Eintrittswahrscheinlichkeit vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) mit 1 % in 50 Jahren angegeben wird, nicht verhindern. Er erreicht noch nicht einmal die Anforderungen des noch unter der Umweltministerin Merkel verabschiedeten Artikelgesetzes von 1994. Insbesondere die ältesten der in Deutschland betriebenen Atomkraftwerke können wegen inhärenter, nicht zu beseitigender Sicherheitsmängel mittels Nachrüstmaßnahmen nicht den heutigen Stand von Wissenschaft und Technik erreichen.
Darüber hinaus wurden ehemals vorhandene Sicherheitsreserven reduziert: durch Leistungserhöhung, höhere Anreicherung mit Uran 235 in den Brennelementen (BE), Einsatz von Plutonium-Mischoxid-BE, längere Standzeit der BE, verkürzte Revisionszeiten. Bei nüchterner Betrachtung ist es wohl eher glücklichen Umständen zu verdanken denn der Umsicht und Gewissenhaftigkeit der AKW-Betreiberinnen und der realisierten Sicherheitstechnik, daß es in einem deutschen AKW noch nicht zu einem katastrophalen Versagen der Sicherheitseinrichtungen gekommen ist.
Die Politik sollte sich bei der Entscheidung über einen Ausstieg aus der Atomenergienutzung bzw. der Festlegung von Restlaufzeiten nicht von den Nachrüstungen blenden lassen sondern berücksichtigen, daß es in den 19 bundesdeutschen AKWs jederzeit zu einem verheerenden SuperGAU kommen kann.
Zur Frage der Entsorgung radioaktiver Abfälle läßt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur lapidar feststellen, daß das ehedem existierende Konzept, dargelegt in den zwischen den Ländern und dem Bund im Jahre 1979 vereinbarten Entsorgungsgrundsätzen, deren Basis ein geschlossener Brennstoffkreislauf unter Nutzung der Wiederaufarbeitung und Einsatz von Schnellen Reaktoren ("Brütern") zur Stromerzeugung war, gescheitert ist; ein neues Konzept hingegen existiert gegenwärtig nicht.
Dieses Scheitern manifestiert sich vorrangig am Fehlen eines geeigneter Endlager zur langfristig sicheren Verwahrung (über Millionen von Jahren) des Strahlenmülls. Nachdem für die Erkundung des in der Vergangenheit als Endlager für wärmeentwickelnde Abfälle vorgesehenen Salzstockes in Gorleben seitens des BMU ein Moratorium verkündet wurde (wegen Fragen der Langzeitsicherheit ist der Salzstock in Gorleben (und Schacht Konrad) als nicht geeignet einzustufen), soll nun die Suche nach einem neuen Standort für ein zu errichtendes Endlager in tiefen geologischen Formationen in Deutschland (wieder) aufgenommen werden. Die Hoffnung, im Jahre 2030 ein solches Endlager für alle Arten radioaktiver Abfälle in Betrieb nehmen zu können, kann vor dem Hintergrund der zu lösenden Probleme allerdings als über die Maßen optimistisch bezeichnet werden. Von Fortschritten bei der Entsorgung kann keine Rede sein.
2. Das Klimaproblem
  Eine Klimaänderung durch Treibhausgase stellt ein ernst zu nehmendes Problem dar. Jedoch ist das CO2-Problem nicht mit (zusätzlicher) Atomstromproduktion zu lösen. Das Investieren in Stromeinspartechnologie ist weitaus effizienter (und kostengünstiger) als der Bau neuer AKWs.
Praktisch alle Studien über die künftige Energieversorgung kommen zu dem Ergebnis, daß ein Versorgungspark mit AKWs (Angebotsstrategie) zu einer weiteren Verschwendung von Energie führt; Szenarien mit schnellem Atomenergieausstieg stellen sich langfristig als die klimaschonendesten Varianten heraus. Es ist schon heute absehbar (Prognos Studie des Bundesministerium für Wirtschaft), daß Deutschland beim Festhalten an der derzeitigen Energiepolitik sein CO2-Minderungsziel nicht erreichen wird.
In Deutschland tragen AKWs nur mit 12 % zur Endenergiebereitstellung bei (weltweit sogar nur zu weniger als 5 %). Sie produzieren (mit Ausnahme des AKW Stade) nur Strom. Wärmeenergie muß also zusätzlich über fossile Brennstoffe bereitgestellt werden, was unter dem Klimaaspekt ungünstiger ist als Strom und Wärme gemeinsam in Anlagen mit Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) zu erzeugen (der Wirkungsgrad von Atomkraftwerken beträgt ca. 30 %, der von KWK liegt hingegen bei ca. 70 bis 90 %).
Als Alternativen für Atomkraftwerke stehen keinesfalls nur Gas- und Kohlekraftwerke zur Verfügung; Energieeffizienz bei Wärme, Strom, Mobilität und in der Produktion stellt ein großes Einspar (Negawatt)-Potential dar.
Richtig ist, daß es bei einem Sofortausstieg für einige Jahre zu einem höheren CO2-Ausstoß kommt. Danach sinken allerdings die CO2-Emissionen sehr schnell auf niedrigere Werte als beim Festhalten am jetzigen Kraftwerkspark.
Die Bedrohung durch die Atomenergienutzung und durch den CO2-Anstieg sind unterschiedlicher Art: Das Klima verändert sich zunächst langsam, ein SuperGAU kann sich jederzeit innerhalb von Sekunden ereignen. Die Beseitigung seiner Folgen würde auch die Anstrengungen um eine Reduzierung der Treibhausgase für eine lange Zeit zunichte machen.
Deshalb wird Deutschland seiner globalen Verantwortung am ehesten gerecht, wenn es die Energiewende (Energie sparen, effizient nutzen und regenerativ erzeugen) konsequent umsetzt und so international vorbildlich wird bei der Klimaschutzpolitik.
3. Deutschland als Technologienation
  In vielen Teilen der Welt wird die Kernenergie nicht weiter ausgebaut. In Deutschland ist nur ein AKW-Hersteller übrig geblieben: die Siemens-Tochter KWU erwirtschaftet lediglich 3 % des Konzernumsatzes. Die Exportchancen für Atomtechnologie sind im Vergleich zu anderen Energietechnologien denkbar schlecht.
Abgesehen von den asiatischen Ländern und der Russischen Föderation wird in keinem einzigen Land, in dem bereits heute Atomkraftwerke betrieben werden, gegenwärtig der Bau neuer Anlagen ernsthaft erwogen. Selbst in Frankreich, bekannt für seine Euphorie für die Atomenergienutzung, ist der Neubau des EPR, gepriesen als sog. Fortschrittlicher Reaktor, zurückgestellt worden.
Schweden und die Schweiz haben sich bereits für einen Ausstieg entschieden bzw. ein Moratorium gegen einen weiteren Ausbau verabschiedet. Auch in Großbritannien, den Niederlanden und Spanien ist an einen Atomkraftwerkszubau nicht zu denken. U. a. Italien und Österreich haben sich bereits Mitte bzw. Ende der 70er Jahre gegen den Einstieg in die Atomenergienutzung entschieden. In Finnland bestehen zwar Pläne für den Bau eines weiteren Atomkraftwerks, ob diese allerdings realisiert werden, wird die Zukunft zeigen.
In den USA wurden bereits seit Mitte der 70er Jahre keine neuen Atomkraftwerke mehr in Auftrag gegeben. Auch in Japan steht zu erwarten, daß nach den Nuklearunfällen der letzten Jahre und der offensichtlich gewordenen mangelnden Sicherheitskultur die öffentliche Meinung einem Ausbau der Atomenergie ablehnend gegenüber steht.
Interesse am Aufbau einer nuklearen Infrastruktur zeigen hingegen eine Reihe sog. "nuklearer Schwellenländer". Bei einigen dieser Länder kann nicht ausgeschlossen werden, daß ihr Interesse an der "friedlichen" Atomenergienutzung dem Wunsch entspringt, militärische Atommacht zu werden. Daß eine militärische Nutzung von ausschließlich für zivile Anwendungen gelieferte Atomtechnik möglich ist, belegen die Beispiele Indien, Pakistan, Israel.
Auch die Länder Osteuropas, in denen fast ausschließlich Atomkraftwerke sowjetischer Bauart betreiben werden, können als Anwärter für den Neubau von AKWs sowie für die Nachrüstung bestehender AKWs angesehen werden. Dazu sind ausreichende Kredite durch die westlichen Industrieländer erforderlich, die mit Stromlieferungen zurückbezahlt werden sollen. Diese Art der Finanzierung kommt einer Verlagerung der Stromproduktion in die Länder Osteuropas gleich, die über Hermes-Bürgschaften abgesichert werden soll und zu einem Verlust von inländischen Arbeitsplätzen führt.
Schon heute ist der Einfluß der viel gepriesenen deutschen Sicherheitstechnik auf das internationale Sicherheitsniveau gering. Sie hat die Unfälle im amerikanischen Harrisburg und im russischen Tschernobyl nicht verhindern können.
4. Der Industriestandort Deutschland
  Bis auf wenige Ausnahmen werden die Fertigungskosten deutscher Produkte nur zu einem geringen Teil durch die Stromkosten bestimmt (im Mittel ca. 3 %). Das Ersetzen des 30 %igen Atomstromanteils (65 % werden mit fossilen Brennstoffen und 5 % regenerativ erzeugt) würde die Standortbedingungen also kaum verschlechtern. Im Gegenteil: würden die fortdauernden Subventionen für Atomstrom (keine ausreichende Deckungsvorsorge, steuerfreie Rückstellungen, keine Primärenergiesteuer auf Kernbrennstoffe) endlich gestrichen (und für technologische Innovationen sinnvoll ausgegeben), wäre er konkurrenzlos teuer.
Eine Verlagerung der Stromproduktion ins Ausland wird aufgrund der Liberalisierung des Strommarkts auch ohne die Stillegung von Atomkraftwerken in Deutschland erfolgen. Der Umfang der zukünftigen Verlagerung der Stromerzeugung ins Ausland wird aber auch vom Grad der Zentralisierung der Stromerzeugungskapazitäten bestimmt. Große Kraftwerksblöcke einer zentralen Stromerzeugungsstruktur sind leichter ins Ausland zu verlagern als eine Vielzahl kleiner Anlagen, die der dezentralen Versorgung dienen. Durch den forcierten Einsatz erneuerbarer Energien könnten die bei einem Ausstieg aus der Atomenergienutzung verloren gehenden Arbeitsplätze um ein Mehrfaches ersetzt werden.
5. Die europäische Dimension
  Wie schwierig die Einflußnahme auf das Sicherheitsniveau von Anlagen in anderen Ländern ist, zeigt das Beispiel Tschernobyl. Trotz intensivster internationaler Bemühungen und umfangreicher finanzieller Angebote ist es in den nunmehr fast 14 Jahren seit dem SuperGAU nicht gelungen, die Regierung der Ukraine dazu zu bewegen, alle Reaktoren am Standort Tschernobyl stillzulegen, obwohl kein Zweifel darüber bestehen kann, daß von ihnen eine akute Gefahr ausgeht.
Statt mit immensen Kosten verbundene Verbesserungen an der Sicherheitstechnologie von Atomkraftwerken anzustreben, deren Erfolg zumindest zweifelhaft, wenn nicht gar von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, sollte die Bundesregierung auch andere Länder dazu motivieren, den Einstieg in eine risikoarme Energiewirtschaft zu vollziehen.
6. Der "ökologische Rucksack"
  Jede Art der Stromerzeugung belastet Mensch und Umwelt. Selbst wenn der Blickwinkel auf die Frage der Klimarelevanz der verschiedenen Kraftwerkstypen verengt wird, schneidet Atomstrom keineswegs am besten ab. Regenerative Kraftwerke emittieren in ihrem Betrieb praktisch keine klimaschädigenden Stoffe. Und KWK kann durchaus mit einem Mix aus Atomstrom und ölbefeuerten Heizungsanlagen mithalten. Kommen in Blockheizkraftwerken nachwachsende Rohstoffe oder Reststoffe zum Einsatz, ist Atomstrom auch beim Klimaschutz nur zweite Wahl.
Wird das gesamte "System Kernenergie" betrachtet (Uranförderung, Anreicherung, Brennelementfertigung, Reaktorbetrieb, Transporte sowie Entsorgung des Atommülls), so ist zusätzlich zu den Teibhausgasen auch noch die Freisetzung radioaktiver Stoffe durch den bestimmungsgemäßen und den Störfallbetrieb zu bewerten. Atomstrom verdient dann erst recht nicht das Prädikat, besonders "verantwortlich gegenüber unseren Nachkommen" zu sein.
Auch für weniger industrialisierte Länder, die z.T. über große Sonnen-, Wind- und Wasserkraftpotentiale verfügen, und in denen für die Nutzung von Elektrizität aus zentralen Groß(Atom)kraftwerken erst Hochspannungsnetze gebaut werden müßten, sind Atomkraftwerke weder eine ökonomische noch eine ökologisch empfehlenswerte Alternative zur Nutzung regenerativer Energien.
7. Chancen der regenerativen Energien
  Regenerative Energien leisten schon heute weltweit einen größeren Beitrag zur Energieversorgung als AKWs, wenn das Verfeuern von Holz einbezogen wird. Die in Deutschland vorhandenen Überkapazitäten an Stromproduktionsanlagen sind so groß (37 GW gegenüber 20 GW installierter AKW-Leistung), daß zur Aufrechterhaltung der Stromversorgung als Übergangslösung keine zusätzlichen herkömmlichen Kraftwerke errichtet werden müßten. Aus diesem Grund würden daher auch keine Investitionsmittel fehlen, um Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien zu finanzieren.
8. Revidierbarkeit von Entscheidungen
  Der Ausstiegsbeschluß ist allerdings nicht "zutiefst undemokratisch", weil die Regierungsparteien dies vor der Wahl angekündigt hatten. Das Argument gegen einen Atomausstieg, man sollte künftigen Generationen die Möglichkeit eigener Entscheidungen bewußt offenhalten, ist wenig überzeugend angesichts der Tatsache, daß den kommenden Generationen die Erblast des Jahrmillionen strahlenden Atommülls aufgebürdet wird. Weil politische Entscheidungen durch spätere Regierungen wieder aufgehoben werden können, halten wir die Ankündigung der Bundesregierung, den Atomausstieg "unumkehrbar" zu machen, nur dann für realisierbar, wenn die Reaktordruckgefäße der stillgelegten Atomanlagen unbrauchbar gemacht werden. Sollten künftige Generationen zerstörte AKWs wieder in Betrieb nehmen wollen, so ist das deren Entscheidung.

9. Nachwuchs

  Nuklearer Wissenschaft und Forschung gebührt kein Sonderstatus innerhalb der Wissenschaften, auch wenn dies z. T. aufgrund der gewährten Privilegien den Anschein hat.
Richtig ist, daß die Stillegung von Atomkraftwerken und die Entsorgung der beim Betrieb angefallenen radioaktiven Abfälle zuverlässig und verantwortungsbewußt zu erfolgen hat. Die zur Bewältigung dieser Aufgaben benötigten Qualifikationen unterscheiden sich jedoch deutlich von denen, die für den Bau und Betrieb von Atomkraftwerken notwendig sind. Daher gibt es keinen Grund, nukleare Wissenschaft und Forschung weiter zu fördern. Schon heute wird die Kerntechnikbranche von Nachwuchssorgen gequält, weil junge Wisschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie angehende Technikerinnen und Techniker erkannt haben, daß die Atomtechnologie keine Zukunftsperspektive hat.
10. Ausstieg ist keine Lösung
  Die Reduktion der Energiepolitik auf den Ausstieg aus der Atomtechnologie wäre in der Tat ein Armutszeugnis. Bessere Alternativen als die Stromproduktion durch Kernspaltung stehen zur Verfügung. Notwendig ist eine Energiewende. Ohne einen Atomausstieg ist eine Neuorientierung der Energiepolitik auf eine global gerechte, ökologisch und sozial vertretbare Energiewirtschaft nicht möglich.